Teil 1: Anreise und Marokko  
  

Marokko  Marokko  Marokko 

"Das ist die Wüste. Ein Koran, nichts weiter als eine Spielregel, verwandelt ihren dürren Sand in ein Kaiserreich. In ihren Tiefen, die sonst leer wären, rollt ein heimliches Schauspiel ab, das die menschlichen Leidenschaften wild aufwühlt...

Und dennoch liebten wir die Wüste. Zuerst ist sie nur Leere und Schweigen, denn sie gibt sich nicht zu Liebschaften von einem Tage her. Nun ist die Sahara in uns, und erst da zeigt sie sich."

Antoine de Saint-Exupéry

"Yalla", "los geht's!"

Köln, Dienstag, 06. Oktober 1992
11.00 Uhr. Wir verstauen schnell noch die letzten Sachen im Bulli. Immer wieder hatten wir den Abfahrtstermin verschoben, damit die Vorbereitungen nicht zu stressig werden. Jetzt ist doch Hektik angesagt, weil wir unsere Pässe mit den algerischen Visa noch abholen müssen, und die Botschaft in Bonn nur bis 12 Uhr geöffnet ist. Also schnell los. Gerade noch rechtzeitig kommen wir im Bad Godesberger Botschaftsviertel an, und der algerische Konsul drückt uns kommentarlos die Pässe in die Hand.
Wir fahren direkt weiter und am Abend passieren wir den Grenzübergang nach Frankreich. Auf den Komfort französischer Autobahnen verzichten wir, da uns die Gebühren zu hoch sind. Zu den sowieso schon happigen Preisen kämen noch 50 Prozent Aufschlag für die Überhöhe unseres Hochdach-Busses. Doch auch auf den "Routes Nationales" kommen wir flott voran. Schnurgerade ziehen sie sich durch die hügelige Landschaft. Menschen sind kaum zu sehen, die Dörfer wirken wie ausgestorben. Links und rechts der Straße liegen ausgedehnte Weinfelder, doch leider sind sie schon abgeerntet. Ab und zu entdecken wir noch einige Trauben und können nicht widerstehen, unseren Lebensmittelvorrat mit ihnen zu ergänzen.
Etwas südlich von Bordeaux erreichen wir das Meer. Nach einem kurzen Picknick am Atlantikstrand überqueren wir am Morgen des dritten Tages die Pyrenäen - die Grenze zu Spanien. In endlosen Serpentinen schraubt sich die Straße von der baskischen Küste ins Landesinnere. Es beginnt, in Strömen zu regnen und passend zu diesem Mistwetter läuft "Rain" von den Beatles im Radio. Vor uns zieht sich eine lange Kette roter Rücklichter bis zum Horizont, wo sie verschwinden. Links davon tauchen sie als weiße Lichter wieder auf und kommen uns blendend entgegen. Endlose Schlangen von LKW drängeln sich durch kilometerlange Baustellen, die wohl einmal eine Autobahn werden sollen. Abends fahren wir dann mitten durch Madrid. Stau. Unglaublich, daß so viel Blech in einer Stadt Platz hat.

Nach insgesamt 2.600 Kilometern erblicken wir nach vier Fahrtagen den riesigen Felsen von Gibraltar. Völlig deplaziert wirkt er in der ansonsten flachen Küstenlandschaft. Wir beschließen, einen kurzen Abstecher dorthin zu unternehmen. Schon witzig, diese sechs Quadratkilometer kleine Enklave mit gerade mal 30 000 Einwohnern. Mitten in Spanien weht die Flagge von Großbritannien. Überall Reklame für englische Zeitungen und englisches Bier. Glücklicherweise herrscht Rechtsverkehr und bezahlen kann man mit britischen Pounds wie auch mit spanischen Pesetas. Schon immer hat es Zwist um diesen einst strategisch wichtigen Zipfel Land gegeben. Er ist seit der englischen Besetzung Anfang des 18. Jahrhunderts ein ständiger Zankapfel zwischen Spanien und Großbritannien.
Ein paar Kilometer weiter fahren wir ins spanische Algeciras hinein. Von hier geht die Fähre über die "Straße von Gibraltar" nach Marokko ab. Zum Glück geht unser Wagen für 4,50 Meter durch, obwohl er ein paar Zentimeter länger ist, und wir sparen fast 100 Mark. Dann heißt es warten. Die Fähre fährt zwar mehrmals täglich, aber Verspätungen sind üblich. Ceuta, der Zielhafen, ist eine spanische Stadt auf afrikanischer Seite. Zusammen mit Melilla weiter im Osten ist das alles, was den Spaniern noch von ihrem ehemaligen Besitz in Afrika geblieben ist. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts hatten sie den nördlichen Teil Marokkos besetzt.
Hauptsächlich Spanier sind unterwegs, denn schließlich ist es eine Inlandsfähre. Aber auch viele Marokkaner, vollgepackt bis unter das Dach mit Einkäufen aus Europa. Oft erhöht ein hoffnungslos überladener Dachgepäckträger die Gesamthöhe des Autos auf fast das Doppelte, was wiederum starke Zweifel an der Fahrtüchtigkeit dieser Gefährte aufkommen läßt.
Wie die meisten anderen verfolgen wir die Abfahrt unserer Fähre an Deck. Langsam entschwindet Europa, während Afrika erste Konturen annimmt. Mitten in der Menschenmenge beginnen zwei ältere marokkanische Männer, ihre Gebetsteppiche auszurollen und sich die Schuhe auszuziehen. Sie lassen sich bei ihrem Gebet nicht von den Umstehenden stören. In einem fest vorgegebenen Ritus verneigen sie sich in Richtung Mekka. Der Islam ist in Marokko Staatsreligion - 95 Prozent der Bevölkerung bekennt sich zu ihm.
Keine andere Religion hat sich so schnell ausgebreitet wie der Islam. Im Jahre 570 n. Chr. wurde der Prophet Muhammad geboren, dem der Engel Gabriel später die Worte Allahs, den "Qur'an", übermittelte. 622 n. Chr. zog Muhammad von Mekka nach Yathrib um, da er keine Chance gegen die Macht der alteingesessenen Priester und Händler hatte. Diese fürchteten, daß Mekka seine Position als Wallfahrtsort und damit als Wirtschaftszentrum verlieren könnte Der Umzug nach Yathrib, das später nur noch Medina, "die Stadt", genannt wurde, ist der Beginn der islamischen Zeitrechnung. In Medina fand Muhammad schnell Anhänger und schon bei seinem Tode im Jahre 632 war ein Großteil der arabischen Halbinsel islamisiert. Unter seinen nächsten vier Nachfolgern, den Kalifen, breitete sich der neue Glaube bis zum heutigen Libyen im Westen und bis Afghanistan im Osten aus. Doch nach der Ermordung des vierten Kalifen Ali entbrannte ein Streit um die Macht, dessen Folge die Spaltung des Islam in Sunniten und Schiiten war. Die Schiiten ("Shia Ali", "die Partei Alis") erkennen nur die Nachkommen Alis als rechtmäßige Kalifen an. Sie sind den Sunniten zahlenmäßig weit unterlegen, und haben heute etwa einen Anteil von zehn Prozent aller Muslime. Dem Tempo der Ausbreitung tat diese Spaltung keinen Abbruch. Unter der Dynastie der Omayyaden setzten sich die Eroberungen in Richtung Westen fort. In den Jahren 705 bis 709 endete in Marokko die Ära der Byzantiner und das Land wurde ins Reich der Omayyaden aufgenommen. Es bildete das westlichste islamisierte Land, daher auch Marokkos arabischer Name "Al-Maghreb", das Land im Westen. Auch Spanien wurde muslimisch, die prächtigen Bauten in Cordoba und Granada zeugen noch heute von dieser Epoche, die bis zum 15. Jahrhundert andauerte.

Das arabische Wort "Islam" bedeutet "vollständige Hingabe, Ergebung und Unterwerfung in den Willen Allahs". Ein "Muslim" ist jemand, der den Islam ausübt, sich also Allah hingibt. Religion und Leben lassen sich im Islam nicht voneinander trennen, denn der Alltag soll gelebter Glaube sein. So wäre es für einen Muslim unmöglich, seinen Glauben distanziert vom normalen Leben in Klöstern zu praktizieren. Deshalb orientiert sich der Islam an den Bedürfnissen des alltäglichen Lebens und gibt konkrete Richtlinien für nahezu jede Lebenslage: Tischsitten, Verhalten beim Niesen oder Händeschütteln, Almosenvorschriften, Erziehungsgrundsätze, Rechtsprechung ("Sharia"), Erb- und Staatsrecht, gesellschaftliche Aufgaben von Mann und Frau und natürlich religiöse Grundsätze. Damit ist er mehr als "nur" eine Religion.
Die wichtigsten Grundsätze des Islam sind im Qur'an ("das Gelesene", "der Vortrag"), dem heiligen Buch der Muslime, niedergeschrieben. Die Inhalte wurden von Allah selbst offenbart (Sure 69, Vers 43: ...eine Offenbarung vom Herrn der Menschen..."). Sein Prophet Muhammad ("Der Gepriesene") empfing diese Offenbarungen 23 Jahre lang und verbreitete sie weiter. Er war im Grunde nur ein "Sprachrohr" Allahs. Die meisten Muslime glauben, der Qur'an sei sogar genau in Allahs Wortlaut formuliert. Deshalb muß dem Buch der entsprechende Respekt entgegengebracht werden. Es darf nur an sauberen (hygienisch und moralisch!) Orten aufbewahrt und gelesen werden, es darf kein anderes Buch auf ihm ablegegt werden und bevor man in ihm liest, sollte man sich waschen.
Es ist nicht einfach, Qur'antexte sinngemäß und treffend aus dem Arabischen zu übersetzen. Für viele Wörter gibt es keine gleichwertigen und eindeutigen anderssprachigen Ausdrücke. Jede Übersetzung ist somit eine Interpretation. So wird die Segensformel "Bismillah ar-rahman ar-rahim" zum Beispiel mit "Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes" übersetzt. Das arabische Wort "rahman" steht aber allein für die Gnade und das Erbarmen Gottes, während das deutsche Wort "Erbarmen" auch eine menschliche Eigenschaft sein kann. Deshalb erkennen Muslime den Qur'an nur in Arabisch an und weltweit wird er nur in der arabischen Sprache gelehrt. Bis in die heutige Zeit gilt es für einen ernsthaften Muslim als besonders verdienstvoll, einmal im Leben den kompletten Qur'an von Hand abzuschreiben - natürlich fehlerfrei. Eigentlich sollte auch jeder gedruckte Qur'an absolut druckfehlerfrei sein; kein falsches oder fehlendes Komma, kein falscher Punkt oder Buchstabe darf das göttliche Original entfremden. Ob dies allerdings auch bei all den billigen Ausgaben im Taschenformat, die fast jeder Zeitungshändler verkauft, der Fall ist, bleibt fraglich.
Neben dem Qur'an gelten auch viele überlieferte Worte und Taten Muhammads als eine Art "Gebrauchsanweisung" für den Alltag und die Religion. Sie sind im "Hadith" ("Überlieferung") festgehalten. Der Hadith fordert zum Beispiel beim Essen zum Benutzen der Finger der rechten Hand auf, beschreibt Grußformeln und Gebetsriten, gibt Hinweise über vorteilhafte Schlafstellungen und verurteilt, daß sich jemand ins Zentrum einer Runde von Sitzenden setzt. In ihm heißt es "In der Eile liegt keine Tugend", und auch "Der Beste unter euch ist derjenige, der eine Frau am besten behandelt". Als "Sunna", "Tradition" und "vielbegangener Weg", ist der Hadith von den Sunniten anerkannt. Sie berücksichtigen ihn in ihrem Leben und Glauben, die Schiiten dagegen lehnen ihn ab.
Der Name "Allah" ist aus "Al Illahu", "der (eine) Gott" entstanden. "La illaha illa Allah, Muhammad rasul Allah", "es gibt keinen Gott außer Gott, und Muhammad ist sein Gesandter", so lautet das Glaubensbekenntnis ("Shahada") eines jeden Muslims. Theoretisch ist jeder, der dieses Bekenntnis dreimal vor Zeugen ausspricht, ein Muslim. Auf ihm beruht die streng monotheistische Ausrichtung des Islam.
Auch die 112. Sure besagt, daß Gott der eine und einzige Gott ist, und daß es vor und nach ihm keine anderen Götter gab und geben wird. Sie heißt "Ikhlas", "die Reinheit des Glaubens":
"Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes.
Sag: Er ist Gott, der Eine und Einzige;
Gott der Ewige, der Absolute;
Er zeugt nicht und ist nicht gezeugt worden;
keiner ist Ihm gleich."

Besonders in diesem Punkt ist der Islam klarer und logischer als die christliche Religion. Es gibt keinen dreifachen Gott, der trotzdem eins ist. "La illaha illa Allah", es gibt keinen Gott außer Gott. Es gibt keinen Streit darüber, ob Muhammad nun ein Gott oder göttlicher Natur war. "Muhammad rasul Allah", Muhammad ist der Gesandte Gottes, also ein Mensch. Er wird nicht als Sohn Gottes angesehen, da Allah keinen Sohn haben kann. Deshalb würde sich auch kein Muslim selber als "Mohammedaner" bezeichnen. Manche sehen das sogar als Beleidigung an.
Es gibt keine "unbefleckte Empfängnis", aber Maria wird als der Mutter des Propheten Jesus eine ganze Sure im Qur'an gewidmet. Geistliche und Priester haben im Islam keine Existenzberechtigung. Im Islam soll zwischen Schöpfer und Geschöpf kein Mittler stehen, da der Glaube die direkte Angelegenheit zwischen ihnen ist. "Allah ist den Menschen näher als die eigene Halsschlagader" heißt es im Qur'an. Imame, Mullahs und Ayatollahs sind eigentlich ein Widerspruch dazu. Alle Menschen sind vor Allah gleich und bilden zusammen die "Umma", die Gemeinschaft der Gläubigen.
Trotzdem sind die Gemeinsamkeiten zwischen christlichen und muslimischen Glauben größer als oft angenommen. Zahlreiche biblische Stammväter und Propheten wie Abraham, Moses und Jesus werden als wichtige Wegbereiter des Islam angesehen, allerdings war Muhammad der letzte und endgültige Prophet. Der Qur'an basiert teilweise auf dem Alten Testament. Auch Bibel und Thora gelten als heilige Bücher, weshalb der Qur'an in der 60. Sure auch zur Gerechtigkeit gegenüber den anderen Buchreligionen aufruft.
Wie steht es also um die weitverbreiteten Vorurteile, der Islam sei eine gegenüber Andersgläubigen intolerante, grausame und kriegerische Religion? Der Qur'an selber sagt doch: "und tötet die heidnischen Gegner, wo immer ihr sie zu fassen bekommt, ...denn das ist der Lohn der Ungläubigen..." (Sure 2, Vers 191) und "wenn ihr mit einen Ungläubigen zusammentrefft, dann haut ihnen mit dem Schwert auf den Nacken! Wenn ihr schließlich vollständig niedergekämpft habt, dann legt sie in Fesseln..." (Sure 47, Vers 4).
Genauso leicht fänden sich im neuen Testament "Beweise", daß das Christentum gewalttätig und lieblos sei. Jesus selbst sagt: "Doch meine Feinde, die nicht wollen, daß ich über sie herrsche - bringt sie her und erwürgt sie vor meinen Augen!" (Lukas 19, Vers 27). Außerdem finden sich Stellen wie "Jeder sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat" (Römer 13, Vers 1) oder "Die Weiber seien untertan ihren Männern wie dem Herrn, denn der Mann ist des Weibes Haupt..." (Epheser 5, Vers 22).
Aber all diese Zitate stehen ohne den inhaltlichen und zeitlichen Zusammenhang. Mit dieser Art von Pauschalisierung kann man jeder Religion etwas Negatives anhaften. Dem Aufruf des Qur'an, die Ungläubigen zu ermorden, folgt im Vers 192: "...greifen sie euch an, dann schlagt sie tot, ...aber wenn sie ablassen, ist Allah verzeihend und barmherzig, ...so sie ablassen, sei keine Feindschaft." Die Sure 47 bezieht sich nur auf einen Feldzug, und sie erklärt weiter, daß die Ungläubigen gefesselt werden sollen, um sie später auf dem Gnadenweg oder gegen Lösegeld freizugeben. So finden sich zahlreiche Qur'anstellen, an denen Gnade und Frieden gefordert oder verheißen werden. Auch die Worte "Islam" und "Muslim" sind verwandt mit "Salam", dem "Frieden", denn sie basieren auf der gleichen Wurzel s-l-m.
Ähnlich ist es mit der Pauschalisierung, den "Djihad" als "Heiligen Krieg des Islam gegen die Ungläubigen" zu bezeichnen. "Djihad" beinhaltet die Wurzel dj-h-d, die übersetzt "sich anstrengen" bedeutet. Gemeint ist die Anstrengung auf dem Weg des Glaubens. Es ist in erster Linie die "Anstrengung des Geistes", der Kampf gegen den eigenen Unglauben. Doch durch das Einfügen des Buchstaben Alif, eines langen a, und die daraus entstehende andere Betonung, wird der Djihad zum "Kampf". Und der ist nach der Auslegung des Qur'an nur als Verteidigung des Islam gegen die Ungläubigen erlaubt. Die Übersetzung sollte besser "Kampf um die heilige Sache" lauten, denn der Krieg an sich ist nicht heilig. Die Kämpfe zwischen muslimischen Staaten untereinander oder gegen andere waren und sind meistens Machtkämpfe, auch wenn die Religion oft als Rechtfertigung für einen Krieg herhalten muß - genau wie sie es aber auch für "christliche" Kreuzzüge oder heutige Kriege zwischen Protestanten und Katholiken tun muß.

Europa liegt hinter uns und wir betreten einen anderen Kulturkeis. Ab sofort sind wir keine ledigen Studenten mehr, die in Wohngemeinschaften leben - nein, jetzt werden die Ringe angesteckt, denn von nun an sind wir verheiratet. Unser dreijähriger Sohn mußte leider bei der Großmutter zu Hause bleiben. Mit Mitte Zwanzig noch unverheiratet zu sein und dann noch zusammen zu verreisen, ist für viele Araber schlicht unverständlich. Es wäre hier undenkbar, da es gegen die gängigen Moralvorstellungen verstößt. Solide Berufe haben wir ab sofort natürlich auch. Studenten genießen nicht gerade das höchste Ansehen. Auch wenn es geflunkert ist - unser neuer Status erleichtert doch einiges und erspart viele Erklärungen.
Auch die arabische Sprache wird uns die nächste Zeit begleiten. In ganz Nordafrika und im Nahen Osten wird Arabisch gesprochen, allerdings ist nur die Hochsprache, die auch zum Schreiben verwendet wird, überall gleich. Die einzelnen regionalen Dialekte weichen davon zum Teil stark ab und unterscheiden sich sowohl in der Aussprache und Betonung wie auch im Wortschatz. Dies geht soweit, daß zum Beispiel ein Syrer einen Marokkaner kaum verstehen kann. Beide müssen sich daher der Hochsprache bedienen, die jeder gebildete Araber versteht, da auch der Qur'an in ihr geschrieben ist.
Arabisch unterscheidet sich grundlegend von europäischen Sprachen. Der grammatikalische Aufbau hat kaum Gemeinsamkeiten, was das Erlernen nicht gerade erleichtert. Man stößt nur auf wenige Vokabeln, die sich aufgrund der Ähnlichkeit zu bekannten Worten leicht merken lassen. Doch wenn man einmal die Grundprinzipien der Sprache kennt, ist sie sehr logisch aufgebaut. Alle Worte lassen sich auf eine Wurzel zurückführen, die meist aus drei Konsonanten besteht. Nach festen Regeln kann man aus dieser Wurzel Verben, Nomen und Adjektive bilden, die alle sinnverwandt sind. Wir wollen versuchen, auf dieser Reise über das Stadium unserer Grundkenntnisse aus vorigen Urlaubsreisen hinauszukommen.

Für uns ist diese Tour rund um das Mittelmeer seit langer Zeit ein Traum gewesen. Doch viele Jahre war er nicht zu realisieren, da immer irgendeine Grenze aufgrund von Nachbarschaftsstreitigkeiten gesperrt war. Oder es war unmöglich, ein Visum für Libyen zu erhalten. Erst seitdem Gadhafi Anfang 1992 alle libyschen Grenzübergänge, inklusive dem nach Ägypten, auch für Touristen geöffnet hat, ist diese Umrundung wieder möglich.
Einen Großteil des Sommers haben wir damit verbracht, das Auto vorzubereiten und entsprechend auszubauen. Auch der Papierkram hat einiges an Zeit, Nerven und Geld gekostet. Und bis jetzt können wir uns immer noch nicht ganz sicher sein, daß auch alles klappt: Das libysche Visum ist nur 30 Tage bis zur Einreise gültig. Wir wollen aber mit Sicherheit länger in Marokko und Algerien bleiben. Daher haben wir die ausgefüllten Visaanträge und unsere Zweitpässe bei meinen Eltern gelassen. Sie werden die Visa zu einem späteren Zeitpunkt beantragen und uns dann nach Tunis an die deutsche Botschaft schicken.
"Insha'allah", so Allah will, werden sie auch dort ankommen.

Marokko  Marokko  Marokko  Marokko  Marokko


"Al-Maghreb", "das Land des Westens" - Marokko

Nach eineinhalb Stunden legt die Fähre in Ceuta an. Jetzt kann das Wettrennen der Autos um die vordersten Plätze an der Grenze beginnen. Doch zunächst der allgemeine Run auf die Tankstelle, denn Sprit ist hier deutlich billiger als auf marokkanischer Seite.
Der Grenzübergang ist chaotisch. Massenhaft Menschen, Autos kreuz und quer. Zwischen den Wagen huschen immer mal ein paar Marokkaner im Laufschritt vorbei. Die Kapuze ihrer "Djellaba", dem typisch marokkanischen Kapuzenmantel, tief ins Gesicht gezogen, rennen sie vollgepackt an den Zöllnern vorbei. Einer versteckt sich mit seinem Fernseher hinter unserem Bulli, bevor er eilig weiterläuft. Ein Schmuggler? Den Zöllnern scheint das jedenfalls recht egal zu sein.
Vor einigen Schaltern haben sich große Menschentrauben gebildet. Unschwer läßt sich erkennen, daß hier die Paßkontrolle stattfinden soll. Wir geben unsere Pässe ab und warten. Dann weiter zur Zollkontrolle. Mit unseren Arabischfloskeln haben wir die ersten Sympathien auf unserer Seite. Ein freundliches "Salam. La bes?" - "Bekher" - "Alhamdulillah" (Hallo, wie geht's? - Gut! - Allah sei's gelobt!), und schon entspannt sich das Klima merklich. Ein wenig Smalltalk und kurze Begutachtung unserer Campingeinrichtung, dann können wir die Grenze verlassen.
Wir fahren Richtung Tetuan, machen um die Stadt aber einen Bogen. Zu nah ist das Rifgebirge, das den nordöstlichen Teil Marokkos bedeckt. Einst war es dicht bewaldet, heute sind die Randgebiete zu Viehweiden gerodet, erhöhte Erosion ist die Folge. Nur in einigen zentralen Gebirgsregionen sind noch große Waldgebiete erhalten. Im Rif wird Cannabis angebaut. Das ist zwar eigentlich untersagt, aber die Behörden tolerieren es. Dementsprechend häufig wird man hier aufgefordert, davon zu kaufen. Tetuan hat sich zu einem Hauptumschlagsplatz für Hasch entwickelt. Wir sind immer wieder erstaunt, mit welcher Offenheit es hier gehandelt wird. Auf den nächsten 60 Kilometern bis zum Städtchen Chaouen zählen wir mit, wie oft uns zum Teil faustgroße Haschbrocken am Straßenrand entgegengehalten werden: immerhin elfmal. Und viermal stellen sich die Anbieter sogar mitten auf die Straße, da heißt es: lächeln, winken, dann mit Hupe und Lichthupe drauf zu. Bloß nicht die Laune verderben lassen von dieser besonders ausgeprägten marokkanischen Geschäftstüchtigkeit.
In Chaouen dagegen, wo wir die Anmache bei unserem letzten Aufenthalt im Frühjahr als besonders schlimm empfanden, werden wir diesmal eher in Ruhe gelassen. Wir beziehen Quartier in unserem Stammhotel "Bonsai", direkt unterhalb des Marktplatzes. Es ist eines der schönsten Billighotels in ganz Marokko. Jede Etage besitzt eine Art Halle, die mit Säulen, Rundbögen und einer Sitzecke ausgestattet ist. Bunte Kacheln mit Ornamenten schmücken die Wände. Das Doppelzimmer ist mit 70 Dirham (ca. 13 DM) pro Nacht günstig, dazu ist es sehr sauber und hat ein eigenes Bad.
Abends müssen wir dann leider feststellen, daß am Bulli ein Reifen platt ist. Aber das ist nach fast 3 000 Kilometern noch zu verkraften.

Sonntag, 11.10.92
Am Morgen machen wir uns auf die Suche nach einem "Vulkaniseur". Zum Glück gibt es solche "Reifenreparaturwerkstätten" auf der ganzen Tour recht häufig. Doch die hier in Chaouen hat natürlich gerade heute zu, denn es ist Sonntag und in Marokko ist das Wochenende wie in Europa geregelt. In den meisten der noch folgenden Länder ist am Freitag - dem islamischen "Sonntag" - arbeitsfrei.
Wir haben dafür endlich mal einen Tag ganz ohne Autofahren. Es regnet zwar, aber die "Medina" lädt zum Bummeln ein. Eigentlich ist Medina nur das arabische Wort für "Stadt". Heute versteht man jedoch die Altstadt darunter. Die Medina von Chaouen gehört zu den schönsten und besterhaltenen Marokkos. Durch schmale Gäßchen geht es hinauf bis zum Marktplatz, dem zentralen Treffpunkt sowohl für Touristen als auch für Einheimische.
In einem Café schlürfen wir einen "Thé à la menthe", einen grünen chinesischen Tee, der mit einigen Blättern frischer Minze verfeinert wird. Wie üblich besteht er zur Hälfte aus Zucker - ab sofort werden wir "bedun sukker", ohne Zucker, bestellen. In diesen typischen Kaffee- und Teehäusern, die in der ganzen arabischen Welt verbreitet sind, treffen sich die Männer des Ortes, trinken Tee, spielen Karten oder Backgammon und tauschen Neuigkeiten aus. Scherzhaft werden Cafés daher auch als "Radio Medina" bezeichnet. Für einheimische Frauen ist dieser Ort tabu, Touristinnen werden aber akzeptiert.
Von hier aus beobachten wir das Treiben: Kinder laufen umher, um einzelne Zigaretten zum Verkauf anzubieten. Wenn eine ganze Packung verkauft ist, haben sie gerade mal einige Groschen Gewinn. Männer sitzen in ihren langen Djellabas aus Wolle herum, die spitze Kapuze meist tief in das Gesicht gezogen. Frauen sind sehr selten zu sehen. Zwei ältere allerdings tragen eine Ladung Dachziegeln nach der anderen quer über den Platz. Schwerbeladen und langsam auf dem Hinweg; erleichtert, aber anscheinend schon wieder in Gedanken bei der nächsten Ladung, auf dem Rückweg. Wir fragen uns, warum zwei alte Frauen, beide durch ihr Alter gebrechlich und von der schweren Arbeit geschwächt, den ganzen Tag so schwer tragen. Mit einem Esel oder auch nur einer Schubkarre wäre das wesentlich leichter zu schaffen. Aber anscheinend ist es billiger, zwei alte Frauen anzustellen. Sie sind darauf angewiesen, überhaupt Arbeit zu haben. Die soziale Absicherung trägt hier nicht der Staat, sondern die Familie. Wenn man diese aus irgendeinem Grund verloren hat, bleiben oft nur solche Arbeiten oder Betteln.

Abends lernen wir in einem kleinen Lokal einen Marokkaner kennen. Er ist sichtlich gut gelaunt: Von Zeit zu Zeit holt er sein Pfeifchen und das dazugehörige Hasch aus seiner Djellabakapuze, die sich hervorragend als "Vorratsbehälter" eignet. Obwohl er nur Arabisch und etwas Spanisch spricht, klappt die Verständigung mit Händen und Füßen und viel gutem Willen ganz gut. Er wohnt im Rifgebirge und baut dort Cannabis an. Jetzt nach der Erntezeit ist er in die Stadt gekommen, um sich "zu erholen", wie er es nennt: jeden Abend Bier und Hasch - "chocolat maroccain" - bis zum Abwinken. Er arbeite viel, denn seine Felder brauchen viel Pflege. Dafür verdiene er überdurchschnittlich gut und genieße das jetzt. Wir verbringen gemeinsam einen äußerst spaßigen Abend.
Die "Spielregeln" in dieser "Kneipe" sind besonders erwähnenswert: ausnahmsweise gibt es Bier. Da Alkoholgenuß aber nach dem Qur'an verboten ist, darf Alkohol in islamischen Ländern eigentlich nur in Lokalen mit spezieller staatlicher Genehmigung verkauft werden. Doch eine solche besitzt dieser Laden anscheinend nicht. Also bringt der Kellner die Bierdosen, die wohl illegal von Spanien hergeschafft worden sind, dezent im Ärmel versteckt. Er schenkt das Bier ein und stellt das Glas hinter ein notdürftig errichtetes Versteck. Dazu muß entweder die Speisekarte, eine große Wasserflasche oder ähnliches herhalten. Die Büchse wandert unter den Tisch. Je höher der Konsum, desto häufiger ein peinliches Scheppern, gefolgt von einem eiligen Bücken.

Am nächsten Morgen hat der Vulkaniseur geöffnet. Während unserem Reifen ein Schlauch verpaßt wird, frühstücken wir in einer "Patisserie". In solch einer Konditorei, meist mit Sitzmöglichkeit, kann man neben Kuchen und Sandwichen oft auch frische Obstsäfte, hausgemachten Joghurt oder Milchshakes bekommen.
Auch in der Patisserie schmückt ein Poster von König Hassan II. die Wand. Solche Bilder sind selbst im kleinsten Laden zu finden. Hassan II. ist seit dem Tod seines Vaters 1961 alleiniger Herrscher. Seine Macht ist fast unbegrenzt, da er zugleich weltliches und auch religiöses Oberhaupt ist. Er gilt als "Sherif", als Nachfahre Muhammads. Regierung und Opposition sind königstreu. In Marokko besteht Meinungs- und Pressefreiheit, wobei jedoch drei Themen nicht kritisiert werden dürfen: die Okkupation der Westsahara, der Islam und natürlich die Monarchie. Wirtschaftlich versucht der König, sein Land an Europa anzunähern. Marokko hat sogar einen Aufnahmeantrag für die Europäische Gemeinschaft gestellt, aber dieser ist chancenlos: Die EG fürchtet, daß viele der arbeitslosen Marokkaner nach Europa einwandern würden. Mit Geld aus Europa werden dafür einige Projekte in Marokko gefördert: Im Rifgebirge soll der Haschanbau durch Gemüsezucht ersetzt werden. Doch solange die Bauern für ein Kilogramm Haschisch das zwanzigfache von dem erhalten, was sie mit anderen hochwertigen landwirtschaftlichen Produkten verdienen, erscheint dieses Vorhaben aussichtslos.
Eine Stunde später verlassen wir Chaouen. Die 220 Kilometer in Richtung Süden nach Fès sind holprig und kurvig. Die hügelige Landschaft ist noch vom Mittelmeerklima geprägt: grüne Äcker und Weiden, Kiefern- und Pinienwälder wechseln sich ab. An einer Baustelle wird unser Bulli mit einer dicken braunen Dreckschicht überzogen. Kirstin plädiert dafür, das Abwaschen auf irgendwann zu Hause zu verschieben. Von der "Tarnfarbe" erhoffen wir uns, daß der Wagen nicht ganz so wertvoll aussieht. Auch wenn er in Deutschland nichts Besonderes ist, so fallen wir hier doch auf.
Schlechte Erfahrung machen wir mit einem Tramper. Als wir an einer Kreuzung halten, um die richtige Abzweigung herauszufinden, kommt ein junger Marokkaner angespurtet. Völlig außer Atem fragt er, ob wir ihn 20 Kilometer bis zu seinem Heimatdorf mitnehmen können. Er drängt uns sogar seinen Ausweis auf und wir lassen ihn einsteigen. Doch weder nach 20, noch nach 40 Kilometern kommt das entsprechende Dorf, in dem er aussteigen möchte. Wir fragen ihn, wo er denn nun raus will. Das scheint ihn einigermaßen zu überraschen. Er meint, da wir uns doch ganz nett unterhalten hätten, möchte er die nächsten Tage mit uns mitfahren. An seinem Dorf wären wir sowieso schon vorbei und er würde lieber bei uns bleiben. Das paßt uns nun gar nicht. Freundliches Herauskomplementieren zeigt leider keine Wirkung, also müssen wir deutlicher werden und ihn vor die Tür setzen. Schade, daß man sich wegen so etwas beim nächsten Mal gründlich überlegt, wieder mitzunehmen. Denn eigentlich sind wir der Meinung, daß uns soviel Gastfreundschaft entgegengebracht wird und wir uns auf diese Weise wenigstens etwas revanchieren könnten.

Dienstag, 13.10.92
Einigermaßen unvermutet taucht Fès im Tal vor uns auf. Im Gegenlicht der noch tiefstehenden Morgensonne ein schöner Anblick, trotz der Dunstglocke, die über der Stadt hängt. Es sind nur noch wenige Kilometer bis ins Zentrum und noch nichts deutet auf eine Stadt mit einer halben Million Einwohner hin. Es geht quer durch Äcker und Felder, am Straßenrand liegt Wolle in der Sonne zum Trocknen. Über die Ringstraße "Tour de Fès", die um die Stadt herumführt, erreichen wir direkt das "Bab Boujeloud". Es ist der Haupteingang nach "Fès al-Bali", der historischen Altstadt.
Hier warten auch die meisten Führer, offizielle und selbsternannte, auf Kundschaft. Alle nennen sich "Charlie Brown" oder ähnlich und finden das besonders witzig. Sie versuchen einem weiszumachen, daß man sich ohne sie in den Gassen der Medina hoffnungslos verirrt. Und daß man wahrscheinlich tagelang orientierungslos herumtappt und die Hauptsehenswürdigkeiten sowie den billigsten Shop mit natürlich "very good quality" nicht findet. Getreu unserem Motto "No guide - no problems" stürzen wir uns ins Gewühl der engen Gassen. Sich einfach nur treiben lassen, nicht unbedingt ein festes Ziel ansteuern - das hat uns bisher noch am ehesten etwas vom alltäglichen Leben gezeigt. Mag schon sein, daß einem ohne Führer mal eine Sehenswürdigkeit entgeht oder daß man etwas länger sucht. Dann hilft entweder der Reiseführer mit Stadtplan weiter, oder wir fragen uns durch. So entstehen manchmal nette Kontakte. Lästig ist nur, daß man erstmal alle Führer abwimmeln muß, was oft gar nicht so leicht ist. Die beste Methode für beide Seiten ist Humor und Originalität. Sich aufzuregen oder gar wütend zu werden bringt nichts, außer daß man sein Gesicht und seine gute Laune verliert.
Die Orientierung fällt aufgrund des engen Gassenlabyrinths zwar nicht ganz leicht, aber gerade das macht auch einen gewissen Reiz aus. Wir haben das Gefühl, das 20. Jahrhundert verlassen zu haben. In einem Großteil der Gassen wird niemals ein Auto fahren, da sie einfach zu schmal sind. Esel fungieren als Haupttransportmittel. Oft genug müssen wir uns platt an die Wand drücken, um nicht von einem vollgepackten Esel überrannt zu werden. Immer weiter geht es bergab, vorbei an Moscheen und "Medressen" (Qur'anschulen), aus denen Qur'angesänge der Kinder erschallen, vorbei an duftenden Bäckereien und kleinen Lädchen. Schließlich erreichen wir den "Oued Fès", den Fluß, der Fès den Namen gab. Hier unten sind die Handwerker zu Haus. Fès ist noch immer Marokkos Handwerkerstadt Nummer eins. Kupferschmiede, Wollfärber, Ledergerber - alle arbeiten im Freien, so daß man ihnen zuschauen kann. Die Ledergerber arbeiten noch immer nach Jahrhunderte alten Methoden. In großen steinernen Bottichen befinden sich Gerbflüssigkeiten und verschiedene Farben, und darin werden die Felle mit den Füßen bearbeitet. In der Luft liegt ein stechender Uringeruch der Gerbflüssigkeit.
Die Menschen in den Gassen sind buntgemischt: Alte Männer in Djellabas mit Turban und abgewetzten "Babouschen", einer Mischung zwischen Lederschuhen und Schlappen. Daneben jüngere mit Sonnenbrillen, Jeanskluft und Turnschuhen. Die Frauen sind zum Teil dicht verschleiert, manche tragen nur ein Kopftuch - viele aber auch mit offenen Haaren, in engen Jeans und geschminkt. Dazwischen jede Menge Kinder. Sie spielen oder kommen von der Schule, sie holen Wasser oder bringen Brotteig zur Bäckerei. Für Kinder ist es selbstverständlich, in der Familie und in deren Geschäft oder Handwerksbetrieb mitzuarbeiten. Meist sind sie, obwohl noch recht jung, ohne Eltern unterwegs. Bei uns wäre das undenkbar, hier ist es wegen der abgeschlossenen Sozialstruktur (und der Autofreiheit) kein Problem.
In der Medina kann man auch zahlreiche Formen islamischer Kunst bewundern. Zum Staunen bringen uns immer wieder die ornamentgeschmückten Medressen, die reichverzierten Häuser mit geschnitzten Holzfensterrahmen und die prächtigen Moscheen. Schade, daß es hier wie überall in Marokko für Nicht-Muslime verboten ist, sie zu betreten.
Fès al-Bali verfällt mehr und mehr. Heute steht es als "kulturelles Welterbe" unter Denkmalschutz und wird von der Unesco gefördert. Seit 1980 unterstützt sie die Erhaltung mit insgesamt 550 Millionen Dollar. Auch die Besiedlungsdichte der Altstadt soll durch Umsiedlungen in die Neustadt reduziert werden, um so den verbleibenden Menschen bessere Lebensbedingungen bieten zu können.
Die Stadt wurde im Jahre 807 von Siedlern aus Kairouan (Tunesien) gegründet. Der Name der prunkvollen Hauptmoschee "Kairaouine" zeugt noch heute davon. Die dazugehörige Universität, nach Kairo die zweitälteste islamische Hochschule der Welt, entwickelte sich schnell zu einem geistigen und religiösen Zentrum. Während auf der linken Seite des Oued Fès die Kairouaner wohnten, siedelten sich am gegenüberliegenden Ufer islamische Flüchtlinge aus Andalusien an. Dort entstand das "Andalusische Viertel". Vor allem diese Spanier brachten das Handwerk nach Fès. 1248 wurde die Stadt zur Hauptstadt des Reiches erkoren, in der nun folgenden Zeit erlebte sie ihre größte Blüte. Fès blieb, mit kurzen Unterbrechungen, bis 1912 Hauptstadt.
Heute ist Rabat Sitz des Königs, das Wirtschaftszentrum hat sich nach Casablanca verlagert. Aber noch immer ist Fès geistig-religiöses Zentrum des Landes, überdurchschnittlich viele der Bewohner haben wichtige Positionen in der Regierung und Wirtschaft Marokkos inne. Fès gilt daher auch als die "heimliche Hauptstadt".

Mittwoch, 14.10.92
Wir verlassen Fès am Morgen. Zwar könnte man durchaus noch mehr Zeit in dieser faszinierenden Stadt verbringen, aber es zieht uns weiter nach Süden. So wird es ein reiner Fahrtag, der uns das ganze Spektrum des marokkanischen Verkehrs demonstriert: Straßen, mal hervorragend ausgebaut, mal kurvig und schmal mit reichlich Löchern. Auf ihnen ist alles unterwegs, was sich nur irgendwie fortbewegen kann: Esel, mit und ohne Karren, mit und ohne Begleitung. Schafe, Ziegen, Mofas, Fahrräder, überfüllte Pick-ups, extrem langsam fahrende alte Männer in ihren alten, rostigen Autos und extrem schnell fahrende Überlandtaxis. Am Straßenrand immer wieder Menschen, die in ihren Djellabas auf der Erde liegen und auf irgend etwas warten oder aber einfach nur die Zeit totschlagen. Immer wieder winkt man uns zu, oft werden wir auch aufgefordert anzuhalten. Kinder verlangen nach "un stylo" oder "un Dirham", einem Stift oder etwas Geld. Fußgänger weitab der Dörfer fragen nach Wasser oder versuchen, als Tramper mitgenommen zu werden. Das ist hier weit verbreitet: Alte Männer mit Schafen trampen ebenso wie Bauersfrauen mit dickem Getreidesack oder Kinder auf dem Heimweg von der Schule.
Die Landschaft ist kahl und trocken. Wie grün ist es hier noch im Frühjahr nach den Winterregen gewesen. Aber nach diesem langen heißen Sommer ist davon kaum etwas übrig. Ähnlich sieht es im Mittleren Atlas aus, in den wir allmählich immer tiefer hineinfahren. Dieses dem Hohen Atlas vorgelagerte Gebirge erreicht Höhen bis zu 3 300 Metern. In den tiefergelegenen Gebieten hinter Fès finden sich große, meist bewässerte Obstplantagen mit Verkaufsständen an der Straße. Die Winter sind recht regenreich (bis zu 1 000 Millimeter) und die vielen Flüsse führen selbst im Sommer Wasser, wenn auch nur wenig. Außerdem gibt es viele natürliche Seen sowie Talsperren, die die Wasserversorgung weiter Landesteile sichern. Zahlreiche Eichen- und Zedernwälder lösen die Obstplantagen allmählich ab, und die Dörfer liegen immer verstreuter und abgeschiedener. Viele der Menschen hier leben als Halbnomaden. Sie ziehen im Sommer mit ihren Schafen oder Ziegen auf die Hochweiden und wohnen in selbstgebauten Zelten. Im Winter leben sie in ihren Häusern in den Dörfern.
Die Winter in den Hochlagen des Mittleren Atlas sind teilweise sehr schneereich. In einigen Orten ist sogar Wintersport möglich, und in manchen Gebieten liegt bis zu fünf Monate lang Schnee. Jetzt kommt es uns vor, als ob wir uns verfahren hätten: Die Dörfer sehen aus wie in den Alpen. Die Häuser haben spitze Dächer aus roten Ziegeln, da der viele Schnee die sonst üblichen Flachdächer eindrücken würde. Auch die Kühe auf den Weiden am Dorfrand sehen gar nicht nach Marokko aus.
Nach 420 Kilometern erreichen wir am Abend die "Cascades d'Ouzoud", einen kleinen Ort mit wunderschönen Wasserfällen. Wir waren etwas skeptisch, ob sich die Wasserfälle jetzt im Herbst nicht als kleine Rinnsale entpuppen würden. Doch wir sind von ihrer Größe beeindruckt. Schade nur, daß es schon zu kalt zum Schwimmen ist. Im Sommer ist dies bestimmt ein optimaler Platz, um sich ein wenig abzukühlen. Allerdings ist dann auch einiges mehr los, jetzt haben wir die Wasserfälle fast für uns allein. Lediglich mit einigen frei lebenden Affen müssen wir sie uns teilen. Das ist uns auch ganz recht so, ein paar Tage Ruhe und Relaxen können wir bestens gebrauchen.
Mir wird es dann aber fast zu ruhig, da ich die nächsten zwei Tage mit leichtem Fieber die meiste Zeit im Bett liege. Der obligatorische Durchfall stellt sich auch bald ein, vermutlich ist die Nahrungsumstellung schuld. Wir essen fast immer alles, was die einheimische Küche so anbietet, solange es uns hygienisch vertretbar erscheint. Natürlich bedeutet das ein Risiko, das allerdings immer kleiner wird, sobald man sich erstmal eingewöhnt hat.
Unser Campingplatz ist idyllisch direkt oben am Wasserfall gelegen. Die Inhaber sind nett und fragen am nächsten Morgen, ob wir frisches Brot möchten. Kirstin geht also mit ins Haus, kommt allerdings die nächsten zwei Stunden nicht zurück. Die Frauen der Familie haben sie dazu eingeladen, ihre Hände mit "Henna" zu verschönern. Muster aus Henna als Schmuck sind hier weit verbreitet. Die Blätter der Hennapflanze werden getrocknet und zu Pulver gerieben, anschließend wird das Pulver mit Wasser und Zitronensaft angerührt. Mit Hilfe von Schablonen werden damit feine Muster auf Hände, Füße und manchmal auch ins Gesicht gezeichnet. Nach dem Trocknen hält sich diese orangebraune "Tätowierung" einige Wochen. 
Als es mir besser geht, komme ich nach. Bei Tee und Nüssen warten wir, bis das Henna trocken ist. Die Hände dicht über Holzkohlenglut, nimmt die Haut langsam orange Farbe an, auch wenn das Muster nur aus einigen dicken Punkten besteht. Im Innenhof hüpfen Tauben und Katzen munter durcheinander. Sie gehören mit zur Familie. Eine der Frauen bereitet aus Weizenmehl und Wasser Cous-Cous zu, das typische nordafrikanische Nationalgericht. Mehl wird solange mit etwas Wasser verrührt und durch ein Sieb gedrückt, bis sich kleine Körnchen bilden, die dann über Wasserdampf gegart werden. Das Ganze schmeckt wie eine Mischung aus Grieß und Hirse, ist lecker und sehr sättigend. Wir bedanken uns für Tee und Hennamalerei mit einem kleinen Geschenk und gehen zum Auto. Allerdings kommt es später noch zu einem kleinen Zwist, da der Frau unser Geschenk offensichtlich nicht genug ist: Sie will Geld. Die ganze Sache war also keine Gastfreundschaft, sondern von vornherein geplant. Reingelockt mit dem Brot, das es nie gegeben hat, und dann das Henna als Business.

Nach drei Tagen fahren wir weiter. Das Fieber ist inzwischen weg, und der Magen hat sich beruhigt.
Wir durchfahren Marakech und gegen Abend erreichen wir die Atlantikküste. Der Ort Sidi Kaouiki, etwa 15 Kilometer südlich von Essaouira, hat einem einsamen, endlos langen Sandstrand. Hier wollen wir morgen einen richtigen Faulenztag einlegen. Ich wage es sogar, das Wasser anzutesten, befinde es aber schon nach einigen Minuten für zu kalt. Bis auf ein deutsches Pärchen sind wir die einzigen Fremden hier.

Montag, 19.10.92
In Essaouira stellt sich sofort ein vertrautes Gefühl ein. Im Frühjahr haben wir schon einmal fast zwei Wochen hier verbracht. Die Stadt ist - neben Fès - für uns die interessanteste Marokkos. Mit ihren 50 000 Einwohnern ist sie überschaubar und mit ihrer angenehmen Atmosphäre eignet sie sich auch für einen längeren Aufenthalt. Durch die südliche Lage herrscht selbst im Herbst noch angenehm warmes Klima. Das Meer und der ständige Wind sorgen für eine frische Brise. Im Hotel "Smara" erkennt man uns auch gleich, und wir bekommen sogar wieder dasselbe Zimmer mit Meerblick.
Die "Scala de la Kasbah", die 200 Meter lange, alte Festungsanlage direkt vor unserem Fenster, beeindruckt durch ihre mächtigen Mauern. Zahlreiche Bronzekanonen stehen in einer Reihe zwischen den Zinnen. In den Gewölben am Fuße der Festungsmauer haben sich kleine Handwerksbetriebe niedergelassen, die die für Essaouira typischen Holzeinlegearbeiten herstellen. Die Scala stammt aus dem 16. Jahrhundert. Damals befand sich ein portugiesisches Fort auf dem Gebiet der Stadt. Auch Seeräuber wußten in der folgenden Zeit den Platz als Unterschlupf zu schätzen.
Die heutige Stadt gründete der damalige Sultan Muhammad Ben Abdallah im Jahre 1760. Die Planung übernahm ein französischer Architekt. Ihm verdankt die Medina die ungewöhnlich geraden und rechtwinkligen Straßen, was sie deutlich von anderen arabischen Städten unterscheidet. Durch den Bau eines großen Handelshafens und die damit verbundenen Handelszölle versprach sich der Sultan größere Einnahmen. Den Bau übernahmen schwarze Sklaven aus Westafrika, die außerdem Stadt und Hafen verteidigen mußten. Jüdische Händler, Advokaten und Beamte wurden auf Weisung des Sultans angesiedelt und übernahmen den Handel. 100 Jahre nach der Gründung der Stadt waren 50 Prozent der Bevölkerung jüdischen Glaubens. Der Hafen wurde rasch zum wichtigsten Seehafen Marokkos, hauptsächlich mit Europa wurde intensiv gehandelt. Von Essaouira starteten dann riesige Karawanen in Richtung Süden. Zum Teil zogen mehr als 1 000 Kamele in 63 Tagen bis nach Timbuktu im heutigen Mali. Seit der französischen Kolonialzeit hat der Hafen jedoch nur noch für die Fischerei Bedeutung. Die jüdischen Händler wanderten nach und nach ab, die letzten verließen das Land nach der Gründung des Staates Israel 1948.
Der Hafen ist auch eines unserer ersten Ziele in der Stadt. Tagsüber herrscht hier reges Treiben. Schiffe werden gebaut, geschrubbt oder repariert, Netze geflickt, Fische ausgenommen, gesalzen und verkauft. An einigen Open-Air Eßständen kann man sich gerade gefangenen Fisch oder Calamares aussuchen und grillen lassen, frischer geht es wohl kaum. Die Betriebsamkeit kommt uns schon fast unnormal vor - auf jeden Fall ist sie nicht gerade typisch für Marokko, wo sonst alles einen eher gemächlichen Gang geht.
Die Medina von Essaouira ist noch vollständig erhalten. Mit ihren zweistöckigen weißen Häusern und den zahlreichen Arkaden und Torbögen bietet sie einen schönen Anblick. Türen und Fensterrahmen sind zumeist blau oder grün gestrichen.
Abends herrscht auf den beiden Haupteinkaufsstraßen immer dichtes Gedränge. Autos sind dann verboten, aber selbst Handkarren finden nur schwer ein Durchkommen. Das Leben geht hier einen festen geordneten Gang. Jeder kennt jeden, man kauft nach gutnachbarlichen Bekanntheits-Gesichtspunkten. So haben auch die ganz kleinen eine Chance - die Süßwarenhändler mit einigen Schokoriegeln und die alten Männer mit ihrem Korb Eiern oder ein paar Bund Gewürzen, die fahrbaren Imbißstände mit gekochten Schnecken in Pfeffersoße, die Frauen, die ein einzelnes Huhn oder Kämme und anderen Kleinkram verkaufen. Viel Gewinn kann das nicht abwerfen, aber die Relationen verschieben sich ohnehin, wenn man sich schon für vierzig Pfennig mit "Harira" und "Khobs" (Suppe und Brot) satt essen kann.
Ein kleiner Junge, vielleicht acht oder neun Jahre alt, erkennt uns in einem Café wieder. Er ist unterwegs, um für zwei oder drei Dirham Schuhe zu putzen, wie viele seiner Altersgenossen. Er hat allerdings noch Jonglierbälle dabei und führt Touristen gelegentlich kleine, für sein Alter aber höchst erstaunliche Kunststückchen vor. Ab und zu springen dabei ein paar Extra-Dirham heraus. Ich hatte im Frühjahr schon mal eine Weile zusammen mit ihm jongliert und wir hatten uns gegenseitig einige Tricks gezeigt. Diesmal versuchen wir uns im Passen, das heißt, jeder jongliert mit drei Bällen und im bestimmten Takt wirft man gleichzeitig einen Ball dem Gegenüber zu. Oberstes Ziel ist es zu fangen und ohne Unterbrechung weiterzujonglieren. Zunächst klappt es nicht so recht, was im Café allgemeine Heiterkeit erzeugt. Nach einer Weile geht es besser und das Lachen wandelt sich in Staunen.
Betteln ist in Marokko relativ weit verbreitet. Doch muß man klar unterscheiden: Menschen, die betteln, um so ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, weil sie keine Chance auf andere Einkünfte haben (z.B. durch Behinderung oder Alter), sollte man durchaus etwas geben. Der Qur'an gebietet das mit seiner Pflicht zum Almosengeben sogar. Einer der fünf "Grundpfeiler" des Islam, die Armensteuer Zakat, verpflichtet die Reicheren zur finanziellen Unterstützung der Armen. Doch viele, besonders Kinder, betteln, weil sie herausgefunden haben, daß so mehr Geld als mit Arbeit zu verdienen ist. Bei einem durchschnittlichen Tagesverdienst eines Arbeiters von fünf bis sechs Mark kann man mit Betteln bei Touristen schnell wesentlich mehr bekommen. Darum sollte man sich stets diesen Tagelohn vor Augen halten, wenn man überhaupt etwas gibt. Als Richtwert halten wir uns immer an den Preis eines Brotes (etwa 10 bis 20 Pfennige). Bettlern, die ausschließlich zu Touristen kommen, und Kindern geben wir grundsätzlich nichts. Es sei denn, sie haben eine Dienstleistung dafür erbracht. Bei Kindern sollte man sich darüber im klaren sein, daß sie durch Bettelei schnell zur Haupteinnahmequelle der Familie werden können. Die Folge ist, daß sie nicht zur Schule gehen und das weitere Leben auf Betteln hinausläuft.
In einer kleinen Seitenstraße der Altstadt entdecken wir ein kleines Lokal, in dem es ausschließlich das Nationalgericht "Tajine" gibt. Dies ist eine Art Gemüseauflauf, der in einem speziellen Tontopf mit spitzem Deckel zubereitet wird. Das Besondere in diesem Restaurant ist jedoch, daß man eigenes Gemüse und nach Bedarf Fleisch oder Fisch mitbringen muß. Sogar Minze für den Tee muß selbst beschafft werden. Man zahlt lediglich ein paar Dirham für das Zubereiten.
Nachdem wir unser Lieblingsgemüse auf dem Markt gekauft und es zum Zubereiten abgegeben haben, bekommen wir eine Stunde später eine leckere und gut gewürzte Tajine serviert. Von außen ist das Lokal sehr unscheinbar. Kein Schild oder ähnliches deutet darauf hin, was sich hinter dem Eingang verbirgt. Die Inneneinrichtung ist spärlich, wie in fast allen einfachen arabischen Eßlokalen. Ein paar Holzbänke und Tische, eine Neonröhre an der Decke, die Wände pastellfarben bemalt, ein vergilbtes Foto des Königs, das ist schon alles. Es strahlt nicht gerade pure Gemütlichkeit aus, hat aber durchaus Atmosphäre. In den nächsten Tagen wird dies zu unserem Stammlokal - wir probieren so ziemlich alles aus, was der Markt zu bieten hat. Neben den gängigen Gemüsesorten wie Kartoffeln, Tomaten, Möhren gibt es auch so leckere Sachen wie Auberginen, Zucchini, möhrengroße weiße Rübchen, Kürbis, Fenchel... Ebenso frische Kräuter wie z.B. Basilikum, Thymian und viele andere, die wir nicht kennen, aber probieren. Frische Minze für den Tee darf natürlich nicht fehlen. Etliche Verkaufsstände sind mit riesigen Bergen von Pfefferminze vollgepackt.
Gegenüber vom Gemüsemarkt findet jeden Tag nach dem Nachmittagsgebet eine Art Second-Hand-Verkaufsshow statt. Die potentiellen Käufer sitzen in einem großen Kreis auf dem Boden. In der Mitte gehen Männer rund und preisen ihre Ware zum Verkauf an: so lange bis sich entweder ein Käufer gefunden hat, oder aber klar ist, daß niemand mehr Interesse hat. Dann versuchen es die Verkäufer eben später noch einmal. So werden alte Jeans, gebrauchte Jacken, Stoffe, Boxhandschuhe, Fernsehantennen, Messer, Brotkörbe, Teekannen und ähnliches weiterverwertet. Die Preise erscheinen uns zunächst astronomisch hoch, bis uns ein Marokkaner erklärt, daß hier noch in der alten Währung "Rial" gerechnet wird. Erst beim Kauf wird durch zwanzig geteilt und so in Dirham umgerechnet. Ein Buchhalter notiert Namen und Anschrift von Verkäufer und Käufer, so daß hier keine gestohlene Ware weiterverkauft werden kann. Unterschriften besiegeln das Ganze, Analphabeten tun dies mit einem Fingerabdruck.
Viel Zeit verbringen wir auch in sogenannten "Berber-Pharmacies". Rund um den Marktplatz gibt es eine ganze Reihe davon. Dort werden die verschiedensten Dinge angeboten: Kräuter und Gewürze, diverse Heilmittelchen, Potenzmittel, Tee, Weihrauch und Chamäleons in lebendiger und getrockneter Form - ein Greuel für jeden Tierschützer. Wir sind fasziniert von der Gewürzauswahl und decken uns für den Rest der Tour mit einer Mischung für Tajine sowie Curry, Muskat, Koriander und extra-scharfem Paprika ein.

Freitag, 30.10.92
Der Abschied von den Hotelmitarbeitern fällt recht herzlich aus. Sie raten uns, doch einmal das Auto zu waschen. Ein dreckiger Wagen zeuge von einer weiten Reise und damit vom Reichtum der Besitzer. Als Abschiedsgeschenk drücken sie uns einen alten Schwamm in die Hand. "Bessalama", "auf Wiedersehen".
Von Essaouira in Richtung Süden läge die ehemalige spanische Kolonie "Westsahara" in erreichbarer Entfernung. Aber wegen des dort schwelenden Konfliktes sind weite Teile des Landes militärisches Sperrgebiet, ein Besuch ist nur in einigen Gebieten möglich. (Erst seit dem Frühjahr '93, also nach unserer Reise, ist es unter bestimmten Bedingungen wieder möglich, die Westsahara bis nach Mauretanien zu durchfahren.)
1975 wurde die spanische Kolonialmacht von der UNO zu einer Volksabstimmung über die Zukunft des Gebietes gedrängt. Marokko fürchtete jedoch, daß die Mehrheit für einen selbständigen, vermutlich sozialistischen Staat votieren würde. Am 6.11.75 kam es - noch vor einer Abstimmung - zum "Grünen Marsch", bei dem 350 000 marokkanische Soldaten und Zivilisten ohne Waffengewalt in die Westsahara einmarschierten. Die Spanier beschlossen daraufhin, ihre Truppen abzuziehen und das Land zwischen Marokko und Mauretanien aufzuteilen. Seit 1976 steht die Westsahara unter marokkanischer Verwaltung. Seither kam es immer wieder zu Kämpfen zwischen der Unabhängigkeitsbewegung "Polisario" und dem Militär, einem regelrechten Bürgerkrieg.
Erst 1991 wurde ein Waffenstillstand vereinbart. Die Polisario war geschwächt, da sie die Unterstützung der Sowjetunion, Kubas und Algeriens verloren hatte, die alle selbst in innenpolitischen Schwierigkeiten steckten. Eine für 1992 geplante Volksabstimmung über die Zukunft des Landes kam bis heute nicht zustande. Umstritten ist hauptsächlich, wer überhaupt wahlberechtigt ist. Da inzwischen viele Marokkaner angesiedelt worden sind, wäre es vermutlich wahlentscheidend, ob diese stimmberechtigt sind oder nicht. Die marokkanische Regierung setzt auf Zeitgewinn und hofft, daß sich das Problem irgendwie von allein löst, da der Rückhalt der Polisario im Volk sinkt. Doch auch nach deren Untergang bleibt die Frage, ob die Mehrheit der Westsahara-Bevölkerung nicht doch die Unabhängigkeit will.
Wir fahren in Richtung Osten. Diesmal machen wir in Marakech am "Djemaa al-Fna" - dem Platz der Geköpften - Mittagspause. Früher wurden hier die Köpfe der Hingerichteten öffentlich ausgestellt. Heute ist der "Djemaa" die größte Touristenattraktion Marakechs, dementsprechend groß ist die Gefahr, auf irgendeinen Nepp hereinzufallen. Ein Kanadier warnte uns: "Be well prepared for Marakech!" 
Auf dem Platz herrscht stets reges Leben: Neben Verkaufsständen aller Art, Essensbuden und unzähligen Ständen mit frischgepreßtem Orangensaft, ist es auch der Platz der Gaukler und Geschichtenerzähler. Das Geschichtenerzählen ist eine alte Tradition, und noch heute bildet sich eine große Menschenmenge, wenn der Erzähler Spannendes zu berichten hat. Selbst wir sind angetan von der ausdrucksstarken Erzählweise, obwohl wir praktisch nichts verstehen. Daneben gibt es viele Akrobaten, Musikanten und Schlangenbeschwörer. Führer und Händler, die zum Teil zwielichtige Geschäfte anbieten, sind anzutreffen. Schlepper warten hier auf Kundschaft. Sie leben davon, Touristen mit Tricks und Sprüchen in Souvenirläden zu locken. Von den überhöhten Preisen erhalten sie dann ihre Provision.
Trotzdem läßt sich in Marakech gut einkaufen. Vor allem Leder, Textilien und Trommeln gibt es in reichlicher Auswahl und zu günstigen Preisen, jedenfalls wenn man sich auf das obligatorische Feilschen einläßt. Wir beginnen den Handel um eine Trommel und in relativ kurzer Zeit geht der Preis von 250 auf 45 Dirham herunter, was mit etwa neun Mark wohl auch ganz reell ist. Allerdings ist solch ein flotter Geschäftsabschluß eher unüblich. Wenn man etwas gefunden hat und Interesse zeigt, beginnt normalerweise alles weitere mit einem Tee. Während dieser Zeit wird fleißig Konversation betrieben - aber bloß nicht über das Geschäft. Runde eins der Verhandlung beginnt mit dem Abtasten der Positionen. Preisforderung und Gebot liegen aber zumeist schier unvereinbar weit auseinander. Empörung über den hohen Preis bzw. das niedrige Gebot läuten Runde zwei ein. Kritisches Begutachten der Ware durch den Käufer und Loben der Qualität durch den Verkäufer folgen darauf. In Runde drei nähern sich die Preise an, wenn jedoch keine Einigung in Sicht ist - kein Problem. Dann wird erstmal wieder über was anderes geredet. Danach geht's locker weiter: pro Runde geht's ein paar Dirham weiter aufeinander zu. Der Verkäufer betont, daß die Gewinnspanne jetzt ohnehin nur noch minimal ist, höchstens noch "cinq Dirham". Der Käufer verweist dagegen auf die strapazierte Reisekasse. Wenn dann noch immer eine Differenz besteht, hilft nur noch die Andeutung, daß man gehen möchte. Der Effekt ist zumeist eine spürbar gesteigerte Kompromißbereitschaft des Händlers, die Einigung ist nahe. Wenn sie aber noch immer nicht gelingt, bleibt nur noch langsames Verlassen des Ladens. Wenn das letzte Gebot für den Verkäufer einigermaßen akzeptabel ist, wird er den potentiellen Käufer zurückholen und der Kauf wird mit Handschlag und einem weiteren Tee besiegelt.
Je wertvoller das Kaufobjekt, desto länger und intensiver ist diese Zeremonie. Wenn man die Grundregeln beachtet, kann es durchaus Spaß machen. Fingerspitzengefühl gehört ebenso dazu wie die Regel, daß es von einem einmal gemachten Gebot kein Zurück gibt. Es würde Gesichtsverlust bedeuten. Handelt man jedoch hartnäckig, aber "regelgerecht", steigt man in der Achtung des Händlers enorm. Am allerwenigsten Ansehen genießt derjenige, der gar nicht handelt. Und gerade hier in Marokko ist Handeln dringend geboten. Zumindest bei Souvenirs liegt die Preisforderung oft extrem hoch. Meist liegt der reelle Preis weit unter der Hälfte der Ausgangsforderung des Händlers.

Von Marakech fahren wir am Nachmittag weiter Richtung Süden, quer durch den Hohen Atlas. Er bildet mit seinen bis zu 4 300 Metern hohen Bergen eine Barriere zwischen dem mediterranen und dem saharischen Marokko. Am Nordhang stehen viele Gebirgswälder und Unmengen von Kakteen. Die Menschen kultivierten das Land, indem sie Walnuß- und Obstbäume in den Tälern anpflanzten und Terrassenfelder an den Berghängen anlegten.
Auf den letzten Kilometern vor der Paßhöhe reiht sich eine Souvenirbude mit Mineralien und Fossilien an die andere. Bei den geringen Verdienstmöglichkeiten in dieser abgeschiedenen Gegend lohnt es bei ein paar Touristen schon, sich den ganzen Tag an die Straße zu stellen. Und wenn diese dann anrollen, wird die Ware im Dauerlauf neben dem Auto eifrig angepriesen. Besonders hartnäckige und sportliche Händler laufen dem weiterfahrenden Auto noch einige Meter nach: entweder um die Steine noch weiter anzubieten oder aber um wild gestikulierend und lautstark zu schimpfen.
Ein alter Mann ist Richtung Paßhöhe unterwegs, und wir nehmen ihn mit. Er scheint noch nicht allzu oft in einem Auto mitgefahren zu sein. Das rechte Vertrauen in die Technik hat er anscheinend nicht, jedenfalls klammert er sich krampfhaft am Türgriff fest. Er ist aber glücklich und bedankt sich überschwenglich, als wir ihn an einem Haus am Paß absetzen. Der Tizi n'Tichka Paß erreicht eine Höhe von 2 260 Metern. Wir haben einen überwältigenden Blick über die unzähligen Berge und Täler. Auf der Südseite des Passes wandelt sich das Landschaftsbild. Die Berge sind schroffer, zerklüfteter und ohne Bewuchs, dafür wird das Wetter wesentlich freundlicher.
Hier im Hohen Atlas haben sich die Berber ihre eigene Kultur besonders gut erhalten können. In den abgelegenen Gebieten des Gebirges konnte sich der arabische Einfluß nicht so stark bemerkbar machen. Die Berber sind die eigentlichen "Ureinwohner" Nordafrikas und stellen noch heute in vielen Gebieten die Bevölkerungsmehrheit. Sie sind von Marokko bis Siwa (in der westägyptischen Wüste) anzutreffen. Zwar haben sich Berber und Araber im Laufe der Jahrhunderte vermischt - so sind die Berber auch strenggläubige Muslime - aber in einigen Gegenden konnten sie ihre eigene Kultur und Sprache bewahren. Es hat allerdings nie eine einheitliche Berberkultur oder Sprache oder gar einen einheitlichen Staat gegeben, jeder Stamm hat seine eigene Identität.
In Marokko spricht etwa die Hälfte der Bevölkerung einen Berberdialekt als Muttersprache. Man kann sie in drei große Gruppen einteilen. Die seßhaften Rifgebirge-Berber (Zenata) leben hauptsächlich vom Ackerbau. Die "Beraber" im Mittleren und Hohen Atlas sind schaf- und ziegenzüchtende Teilnomaden, die im Winter in den Tälern leben. Sie nennen sich "Imazirhen", was "Edle" oder "Freie" bedeutet. Die dritte und größte Berbergruppe sind die "Chleuh". Sie leben im westlichen Hohen Atlas, im Anti-Atlas und in den Tälern dazwischen als seßhafte Ackerbauern.
Die Bezeichnung Berber leitet sich übrigens vom römischen Wort "Barbar" ab - eine Bezeichnung, die wir heute ganz und gar nicht nachvollziehen können.

Die letzten Kilometer bis zum Campingplatz von Ouarzazate fahren wir im Dunkeln, beschließen aber, daß dies die letzte Fahrt ohne Tageslicht ist, denn das Risiko ist einfach zu groß. Es tummeln sich zu viele unbeleuchtete Dinge auf der Fahrbahn: Fußgänger, Radfahrer, Mofas, Handkarren, Eselkarren, Autos ohne Licht, Hunde, Ziegen und Schafe.
In Ouarzazate haben wir den Hohen Atlas hinter uns und den Nordrand der Sahara erreicht. Klima und Landschaft werden immer wüstenähnlicher. Vorbei ist es mit den Olivenhainen, den grünen Wäldern, den Äckern und Obstgärten. Diese grünen Flecken beschränken sich jetzt auf einige Flußtäler und Oasendörfer. 
Hier beginnt die "Straße der Kasbahs", die ihren Namen den zahlreichen burgartigen Gebäuden der Berber, eben den Kasbahs verdankt. Diese sind vollständig aus einem Lehm- und Strohgemisch erbaut. Diese Bauweise ist äußerst stabil, und die Kasbahs erreichen teilweise eine Höhe von sechs Stockwerken. In den unteren Stockwerken ist das Vieh untergebracht, darüber befinden sich Lagerräume für Getreide, Hülsenfrüchte, Butter und Honig. In den obersten Etagen schließen sich die Schlaf- und Wohnräume an. Kasbahs haben meistens einen quadratischen Grundriß. In der Mitte befindet sich ein Innenhof, an den Ecken hohe Türme. Die mächtigen Außenmauern sind mit in den Lehm geritzten Ornamenten verziert.

Am Stadtrand von Ouarzazate, besichtigen wir am nächsten Tag die Kasbah Taourirt. Sie diente einst dem Pascha von Marakech mit dem gesamten Stamm als Festung und ist noch heute bewohnt. Die Kasbah ist zwar nur zum Teil zugänglich, beeindruckt aber durch ihre gewaltigen Ausmaße. Im dazugehörigen Wohnviertel, dem "Ksar", kommen wir uns allerdings ziemlich fehl am Platze vor. In diesem kleinen Dorf mit relativ armen Bewohnern fühlen wir uns, als wären wir in einen absolut fremden Mikrokosmos eingedrungen. Anders als in europäischen Städten gehören die kleinen Gassen in arabischen Siedlungen zur Privatsphäre der Anwohner. Wir sehen ein, daß dies eines der Gebiete ist, in denen Fremde nichts zu suchen haben.
Entlang der "Straße der Kasbahs" gefällt uns die Vielfalt der Landschaft: karge, bergige, braungelbe Wüste im Wechsel mit fruchtbaren grünen Flußtälern. Hübsche Dörfer mit alten Kasbahs und Ksaren neben den Unmengen von Palmen und Obstbäumen der Gärten. Und nach Norden hin die mächtigen Gipfel des Hohen Atlas. Die landschaftlichen Höhepunkte sind die Schluchten der Flüsse Dades und Todhra. Beide reichen von der Straße der Kasbahs in den Hohen Atlas hinauf. Wie grüne Bänder ziehen sich die Flußtäler durch die felsigen roten Berge. Dazwischen braune und rosafarbene Lehmhäuser und immer wieder Kasbahs, meist an besonders markanten Stellen.
Direkt am imposanten Schluchteingang der Todhra schlagen wir unser Nachtlager auf.

Sonntag, 01.11.92
Früh morgens marschieren wir los, um die Schlucht ein Stück hinaufzuwandern. Immer wieder tuckern die Atlas-Linienbusse an uns vorbei: alte rote Bedfod-LKW, auf deren Ladefläche sich die Fahrgäste knubbeln. Auf dieser relativ schlechten Piste sind ansonsten nur wenige Fahrzeuge unterwegs. Während am Schluchteingang, wo auch einige Hotels und Cafés sind, regelmäßig Touristenbusse vorfahren, ist schon nach wenigen Kilometern kaum ein Mensch mehr zu sehen. Wir treffen lediglich einige Hirten mit ihren Schafen und Ziegen. Je weiter wir gehen, desto spärlicher wird die Vegetation. Der Fluß führt kaum Wasser, und man kann sich schwer vorstellen, wie er diesen gewaltigen Canyon ausgewaschen haben soll. Doch im Frühjahr, nach der Schneeschmelze, sieht das ganz anders aus: Der Fluß führt reichlich Wasser. Die Palmen verschwinden im Winter schon mal unter einer dichten Schneedecke und bieten einen recht ungewöhnlichen Anblick.

Über Errashidia fahren wir gegen Abend zu den "Sources bleues de Meski", den "Blauen Quellen von Meski". Ein etwas hochtrabender Name und etwas zu viele Souvenirbuden, trotzdem irgendwie ein ganz nettes Plätzchen mit Campingplatz und Bademöglichkeit im klaren Quellwasser, das erstaunlich sauber und warm ist. Es fließt auch ständig neues Wasser nach, so daß keine Bilharziosegefahr besteht. In stehenden Gewässern dagegen tritt der Überträger dieser Wurmkrankheit verstärkt auf.
Endlich lernen wir zwei Reisende kennen, die mit ihren Motorrädern gerade aus Algerien kommen. Wir haben schon lange auf neueste Informationen über die Situation dort gewartet. Marokkaner haben uns immer wieder vor Algerien gewarnt und erzählt, wie schlecht die Situation dort sei. Allerdings haben wir diesen Geschichten nie allzuviel Glauben geschenkt, da sie zum großen Teil auf Nachbarschaftsstreitigkeiten beruhen. Sorgen machen wir uns wegen der politischen Unruhen und den ständigen Anschlägen islamischer Fundamentalisten. Die beiden Motorradfahrer können uns aber beruhigen. Sie sind ganz begeistert von der algerischen Sahara und den Menschen dort. Den ganzen Abend wird erzählt: Marokko per Wohnmobil, Algerien per Moped.

Die letzten 350 Kilometer bis zur algerischen Grenze bei Figuig ziehen sich ewig hin. Aus Langeweile führen wir eine Strichliste über uns entgegenkommende Fahrzeuge: Es sind in den fast sechs Stunden gerade 26.
Die Landschaft ist ebenfalls eintönig. Flache Geröllwüste mit spärlichem Bewuchs bedeckt den östlichen Teil Marokkos. Uns fällt wieder ein, daß die Sahara zum größten Teil so aussieht. Die "Bilderbuchsandwüste", die einem als erstes einfällt, wenn man das Wort Sahara hört, macht aber nur einen kleinen Teil des insgesamt zwölf Millionen Quadratkilometer großen Gebiets aus. Die Sahara ist damit ungefähr so groß wie die USA und bedeckt etwa 30 Prozent der Landmasse Afrikas. Sie ist die größte Wüste der Erde. Die Sahara erstreckt sich vom Südrand des Hohen Atlas bzw. vom Mittelmeer in Libyen und Ägypten über 1 500 Kilometer südlich bis zu der feuchteren Klimazone des "Sahel". Diese Grenze ist nicht eindeutig festzulegen, sie verschiebt sich durch die Ausbreitung der Wüste (Desertifikation) stetig nach Süden. Seit der Jahrhundertwende schon um etwa 400 Kilometer, alle zwei Tage werden weitere 100 Quadratkilometer zu Wüste. Von West nach Ost verläuft die Sahara über 5 500 Kilometer vom Atlantik bis zum Roten Meer.
Wegen ihrer vielseitigen Landschaftsformen wird die Sahara auch oft als Wüstenkontinent bezeichnet. Eine dieser Wüstenformen sind die berühmten Sandwüsten (Ergs), von denen manche größer als Deutschland sind. Ein solches ist auch der "Grand Erg Occidental" in Algerien, den wir auf dieser Tour zur Hälfte umrunden wollen. Aber nur 20 Prozent der Sahara bestehen aus Sanddünen. Den Rest bedecken vorwiegend die Geröll- oder Steinwüsten (Hamadas) oder die kies- oder sandbedeckten Ebenen (Reg- und Serir-Wüsten). Zu den Landschaftsformen der Sahara gehören ebenso riesige Hochplateaus aus Sandstein (z.B. das "Tassili n'Ajjer" bei Djanet in Südalgerien) oder Gebirge vulkanischen Ursprungs mit Höhen bis zu 3 000 Metern (z.B. das algerische Hoggar-Gebirge); außerdem sandgefüllte Einbruchsenken (Gouaras), ausgetrocknete Salzseen (Shotts) sowie die endlos weiten Landschaften in denen vereinzelte Granit- oder Zeugenberge wie skurrile Ritterburgen aussehen. Inmitten all diesem erscheinen Oasen wie grüne lebensspendende Inseln. Aber sie bedecken gerade mal ein Prozent der Saharafläche.
Die Sahara war nicht immer so trocken und lebensfeindlich wie heute. Riesige Gebiete sind im Laufe der Erdgeschichte wiederholt abgesunken und von Meeren bedeckt gewesen. Davon waren jeweils nur einzelne Areale betroffen, nie war die Sahara ein einziger großer Meeresgrund. Manche Gebiete waren bis zu achtmal von Wasser bedeckt, während sie dazwischen durch das Ansteigen der Erdkruste austrockneten. Die Ursachen dieser Entwicklung waren das Driften der Erdplatten, die Eiszeiten und die Verschiebung der Klimagürtel der Erde. Der unterschiedlichen Entwicklung in den einzelnen Teilen der Sahara verdankt sie ihre heutige Landschaftsvielfalt.
Noch bevor es Menschen gab, war die Entwicklung der Sahara abgeschlossen. Sie nahm allerdings nur einen Bruchteil der heutigen Fläche ein. Noch vor 10 000 - 6 000 Jahren herrschte in einigen Gebieten ein so feuchtes Klima, daß es dort viele Seen und Wälder mit üppiger Tier- und Pflanzenwelt gab. Zu dieser Zeit lebten die Menschen als Jäger und Sammler. Vor 8 000 - 4 000 Jahren gingen sie zum Ackerbau und zur Rinderzucht über. Doch durch die immer öfter ausbleibenden Regenfälle verdorrten die Weiden zur Steppe und schließlich zur Wüste. Vor 3 000 Jahren ging die letzte Feuchtphase endgültig zu Ende, 1 000 Jahre später blieb den Menschen nur noch der Nord- oder Südrand als geschlossenes Siedlungsgebiet. Sie mußten sich anspruchslosere Tiere halten. Seit der Zeitwende hält man sich Kamele, seit jüngster Zeit auch Ziegen und Schafe.
Die Geschichte der Besiedlung kann man an den zahlreichen bis zu 12 000 Jahre alten Felszeichnungen nachverfolgen. Im algerischen Tassili-Gebirge um die Oase Djanet finden sich besonders viele und einmalige Exemplare. Jüngere Zeichnungen zeigen auch vermehrt Kampfszenen zwischen den Hirtenvölkern. Durch die Ausbreitung der Wüste steigt die Konkurrenz der Nomaden um die verbleibenden Weidegebiete.
Es gibt jedoch noch weitere vorprogrammierte Konflikte: Nur ein geringer Anteil der Saharabevölkerung siedelt in der Wüste an sich. Die meisten Menschen leben als Nomaden in den Randgebieten. Am Südrand ist dies die steppenartige "Sahelzone". Diese Zone ist zunehmend von der Ausbreitung der Sahara betroffen. Daher ziehen die Nomaden weiter nach Süden, wo sie noch Weideland für ihre Tiere finden. Besonders nach den zwei großen Dürreperioden Anfang der 70er und 80er Jahre drängen sie immer stärker in die völlig anders besiedelte Zone des "Sudan" ein. "Bled as-sudan", "das Land der Schwarzen", ist die arabische Bezeichnung für diese Landschaftszone, die bis zur westafrikanischen Küste reicht. In der klimatisch begünstigten Gegend leben vorwiegend seßhafte Bauern. Sie haben an sich schon genug mit den Problemen der Überbevölkerung zu kämpfen. Eine weitere Besiedlung durch die Nomaden des Nordens führt zwangsläufig zu Konflikten. So kam es im Oktober 1992 an der Grenze von Niger zu Nigeria zu einem Massaker: Aufgebrachte nigerianische Bauern ermordeten über 100 Nomaden, weil deren Rinder und Ziegen das Ackerland zertrampelt hatten.

Nach dem eintönigen Gelbbraun der Wüste ist das satte Grün der Palmen in der Grenzoase Figuig eine willkommene Abwechslung. Wir können es gut nachvollziehen, daß auch die Fahne der Truppen Muhammads grün war. Als Wüstenbewohner schätzten sie die Farbe der Vegetation über alles. Grün ist die Farbe des Islam und in fast allen Flaggen der arabischen Staaten zu finden.
Figuig ist ein netter Ort, der aus mehreren Oasendörfern besteht. Wir legen unsere letzten Dirham in Lebensmittel an, da die Versorgungslage jenseits der Grenze angeblich nicht so günstig ist. Später stellen wir allerdings fest, daß die hier erhältliche Schokolade sogar aus Algerien importiert ist. 
Dies wird unser letzter Abend in Marokko sein, morgen geht es über die Grenze nach Algerien -Neuland für uns. Außer Ägypten kennen wir keines der nachfolgenden Länder. Unter die Neugierde mischt sich etwas Unruhe vor Unbekanntem. Immerhin gelten in allen folgenden Staaten die gleichen sozialen und religiösen Spielregeln oder Verhaltensmuster. Das heißt natürlich nicht, daß ein arabisches Land gleich dem anderen ist. Uns beruhigt, daß wir mit der Mentalität der Menschen in Marokko keine Probleme hatten, was längst nicht bei allen Besuchern so ist. Berichte über total frustrierte Touristen, die mit der manchmal etwas aufdringlichen Art nicht zurecht kommen, sind recht häufig.
Besondere Probleme haben da alleinreisende Frauen. Auch Kirstin kann immer ein Lied davon singen, wenn sie irgendwo allein unterwegs war. Allerdings beschränkte sich dies bisher auf Blicke und Kommentare, nie wurde sie ernstlich bedrängt. Junge arabische Männer scheinen jeder ausländischen Frau irgend etwas hinterher zu rufen.
Als wir vor der Abfahrt Freunden von unserer geplanten Tour erzählt hatten, stießen wir nicht selten auf Unverständnis. "Was wollt ihr denn überhaupt da unten?" mußten wir uns einige Male anhören. Die einseitige Berichterstattung über islamische Länder in deutschen Medien erweckt nicht gerade Sympathie für diese Staaten. Außer Berichten über angeblichen religiösen Fanatismus erfährt man normalerweise nicht allzuviel über sie. Daß die Realität ganz anders aussieht, daß die Menschen überaus freundlich sind und daß diese Staaten zu den sichersten Reiseländern zählen, wissen die meisten nicht. Und der Stellenwert der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Zusammenhalt der Familie oder Dorfgemeinschaft sind Werte, die in unserer Gesellschaft schon fast verloren gegangen sind.

  
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